Inhaltsangabe zu "Mittsommertage: Roman"
Ruth Lember, Ethikprofessorin in Berlin, steht kurz vor der Krönung ihres bislang so erfolgreichen Berufslebens: Sie soll Mitglied des Deutschen Ethikrats werden. Nichts scheint in diesem Sommer 2022 ihre Zukunft zu trüben: Ben, ihr Mann, gewinnt einen Architekturwettbewerb, ihre Ziehtochter Jenny studiert Kommunikation in Leipzig, und die Corona-Pandemie flaut endlich ab. Dass Ruth bei ihrer morgendlichen Joggingrunde von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, scheint da nur ein störendes Missgeschick zu sein. Aber tatsächlich schwelt die Wunde weiter, und das Ärgernis wird unerwartet zum Auftakt einer ganzen Reihe von Ereignissen, die Ruths Leben zunehmend in Frage stellen. Ein Freund aus der Vergangenheit taucht auf und erinnert sie nicht nur an ihre einstige Liebe, sondern auch an einen nie geahndeten Anschlag der früheren Umweltaktivistin. Niemand sonst, auch nicht Ben und Jenny, weiß von Ruths politischer Vergangenheit, die, sollte sie bekannt werden, sowohl ihre Karriere als auch ihre Ehe aus der Bahn zu werfen droht. Doch genau darauf scheint der Lauf der Dinge jetzt beinahe zwingend zuzusteuern ... Dicht, anschaulich und spannend erzählt Ulrich Woelk in seinem neuen Roman von einer einzigen Woche im Mittsommer in Berlin, die ein ganzes Leben auf den Kopf zu stellen vermag.
Wie weit darf Umweltaktivismus gehen?
Die Mittfünfzigerin Ruth Lember lebt zusammen mit ihrem Mann Ben in einer schicken Berliner Altbauwohnung in akademisch-bildungsbürgerlichem Milieu. Die geschilderten Mittsommertage umfassen eine Woche im Juni 2022 - aktueller kann ein Roman kaum sein. Die Corona-Pandemie hat die Gesellschaft gebeutelt, flaut aber endlich ab. Klimaaktivisten blockieren regelmäßig den Verkehr. Der Angriff auf die Ukraine erregt die Gemüter. Themen wie Gendersprache, Wokeness, veränderte Rollenbilder, Bildungsmisere und Rassismus fließen so organisch in die Handlung mit ein, dass sie en vogue aber keineswegs überfrachtet wirkt.
In die Ehe der Lembers hat sich Gewohnheit eingeschlichen, seitdem Bens Tochter Jenny zum Studieren ausgezogen ist: „Ruth spürte, wie ihr Miteinander bisher um Jenny gekreist hatte. Ob an- oder abwesend, sie war der Mittelpunkt ihres Lebens.“ (S. 83) Doch das Ehepaar steht noch mitten im Erwerbsleben, wichtige berufliche Ereignisse stehen in dieser Juniwoche an: Philosophieprofessorin Ruth soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden, was sie als hohe Ehre und Auszeichnung empfindet. Ben wartet auf das Ergebnis eines großen Architekturwettbewerbs, der für sein eigenes Architekturbüro enorme Bedeutung hat.
Doch bereits der Montagmorgen beginnt für Ruth unerfreulich, als sie beim Joggen von einem freilaufenden Hund gebissen wird. Zunächst nimmt sie den Biss nicht ernst, später muss sie sich im Krankenhaus behandeln lassen. Doch dieses Erlebnis ist nur der Auftakt für eine Reihe weiterer beunruhigender Ereignisse, die Ruths bisheriges Leben aufwühlen und in Frage stellen. So begegnet ihr Stav wieder, in den sie zu Studienzeiten verliebt war. Er übergibt ihr heikle Unterlagen, die teilweise unliebsame Erinnerungen wachrütteln. In Rückblenden erfahren wir mehr über die junge, idealistische Ruth, die in den 80er Jahren in der Anti-Atomkraftbewegung aktiv war und aus Liebe Dinge tat, von denen sie sich heute lieber distanzieren würde. Gehen von diesen Unterlagen Gefahren für sie aus? Die Konfrontation mit den Idealen ihres eigenen jungen Ichs macht Ruth zudem Defizite in ihrer eigenen Ehe deutlich. Warum kommt Ben neuerdings immer so spät nach Hause? Wohin ist sein sexuelles Verlangen verschwunden? Für den Protest der engagierten Klimakleber, in den auch Ziehtochter Jenny involviert zu sein scheint, hat Ruth indessen Verständnis.
Ulrich Woelk ist ein äußerst souveräner Erzähler, dem es wunderbar gelingt, seine Geschichte mehrschichtig aufzubauen und den Leser dabei kontinuierlich gut zu unterhalten. Man fühlt sich immer wieder persönlich tangiert, wenn grundlegende Fragen diskutiert oder Rückblicke in die eigene Jugend gewährt werden. Geschickt verbindet Woelk zwei völlig unabhängige Zeitebenen miteinander, in denen damals wie heute aggressive Protestbewegungen auf ihr Anliegen aufmerksam machen, die dieselbe moralisch-ethische Frage aufwerfen: Darf man ein juristisches Unrecht zu Gunsten höherer, vermeintlich elementarer Ziele begehen oder nicht? Ruth hat als Professorin für ethische Fragen heute natürlich einen differenzierteren Blick darauf als damals, was anschaulich in ihren Reflexionen und Gesprächen verdeutlicht wird. Allerdings wird dabei manches so sehr auserzählt, dass kaum Raum für eigene Gedanken bleibt und ein Gefühl der Bevormundung entsteht.
Wie schon in seinem Roman „Der Sommer meiner Mutter“ versteht es Woelk, den veränderten Zeitgeist insbesondere durch seine Frauenfiguren zu veranschaulichen. Dabei verfolgt er durchaus ein feministisches Ansinnen. So musste Ruth für ihre Karriere noch auf eigene Kinder verzichten und ständig Bestleistungen vollbringen. „Als Frau bist du so oft in der Situation, irgendjemandem etwas beweisen zu müssen, dass es dir eines Tages in Fleisch und Blut übergeht. Das ist nicht gut.“ (S. 37) Jenny hat in der heutigen Zeit völlig andere Voraussetzungen, fühlt sich aber von den permanenten Krisen existentiell bedroht. Die Konfrontation der verschiedenen Generationen gelingt dem Autor ebenso glaubwürdig wie der Blick auf manche andere gesellschaftliche Veränderung. Ehrlich darf Ruth zur Homosexualität bekennen: „So viele verheiratete Männerpaare kennen wir ja nicht. Rational ist es für uns inzwischen selbstverständlich, aber wir sind nicht damit aufgewachsen.“ (S. 73) Mit dieser Aussage trifft sie für mich ins Schwarze.
„Mittsommertage“ ist ein zeitaktueller, souverän und ruhig erzählter Roman, der zwar erst zum Ende hin deutlich an Dynamik gewinnt, jedoch an keiner Stelle langweilig wird. Zu gut versteht Ulrich Woelk sein Handwerk. Das Ende hat hat mir gut gefallen, auch wenn es in Teilen nicht neu und etwas vorhersehbar erscheint.